Die klassischen und nach ihrer Auffassung weitgehend bekannten Aspekte wolle sie dabei auslassen, machte Kesper-Biermann zu Anfang klar, und meinte damit vor allem die Geschichte des deutschen Kolonialerwerbs. Stattdessen berichtetet sie von der Teilnahem des Kaiserreichs an verschiedenen Weltausstellungen und präsentierte dabei die jeweiligen deutschen Pavillons als wichtiges Forum der deutschen Selbstdarstellung. Ebenso erfuhren die Zuhörer von der deutschen Mitgliedschaft in internationalen Organisationen – etwa dem internationalen Telegrafenverein oder dem Internationalen Olympischen Komitee.
Die Referentin, berichtete von einer Zeit, in der sich die Raum-Zeit-Wahrnehmung veränderte und die Welt kleiner zu werden schien. Als Beleg hierfür führte sie Jules Vernes 1873 veröffentlichten Roman „Reise um die Erde in 80 Tagen" an. Durch diese Veränderung, erklärte Kesper-Biermann, rückte aber auch die Welt näher an Deutschland heran. Wie sich das im Kaiserreich zeigte, davon handelte der zweite Teil des rund einstündigen Vortrags. So erfuhren die Gäste von den zahlreichen neugegründeten Völkerkundemuseen, die nicht nur der Ausstellung, sondern auch der Forschung dienten. Waren diese eher einer gebildeten Schicht vorbehalten, so sprachen die „Völkerschauen" die breite Masse der Gesellschaft an. Über eine Million Besucher sahen etwa die von Carl Hagenbeck organisierten Völkerschauen in Hamburg, die unter anderem Menschen aus Lappland, Afrika oder Asien beim Verrichten ihrer vermeintlich alltäglichen Arbeit zeigten. Die Einstellung gegenüber diesen Völkern zeigte sich nicht zuletzt darin, dass solche Schauen oft in unmittelbarer Nähe von Tierschauen angesiedelt waren. Es galt das Stereotyp der Überlegenheit der Europäer gegenüber den primitiven anderen Völkern, erläuterte Kesper-Biermann.
Daneben erfuhren die Besucher von der Vorliebe des Kaiserreichs für Reiseliteratur – vor allem für die Bücher Karl Mays – oder dem steigenden Konsum an Kaffee, Kakao und anderen Kolonialwaren. Interessant auch die Ausführungen über Sammelbilder mit kolonialen Motiven oder beliebte Gesellschaftsspiele wie etwa das „Kamerun-Spiel" oder das „Kolonial-Domino". Trotz verschiedenster Einblicke jedoch, hatte die Gesellschaft kein differenziertes Bild der verschiedenen Weltkulturen, erklärte die Referentin und betonte noch einmal die vorherrschende stereotype Sichtweise.
Sylvia Kesper-Biermann war auf Einladung von Holger Sturm, Geschichtslehrer an der Goetheschule, ans Wetzlarer Oberstufengymnasium gekommen. Ihre Vorlesung war Bestandteil einer Reihe historischer Vorträge an der Schule, in denen in unregelmäßigen Abständen qualifizierte Referenten den Schülern und allen Interessierten einen Einblick in Themen und Aspekte abseits des herkömmlichen Geschichtsunterricht vermitteln sollen. Kesper-Biermann absolvierte ihr Studium an den Universitäten Siegen, Gießen und Bristol bevor sie als Dozentin in Bayreuth, Paderborn, Gießen und zuletzt München arbeitete. Für ihre wissenschaftliche Arbeit erhielt sie unter anderem den Wilhelm-Liebknecht-Preis der Stadt Gießen.