Der „Werther“ als literarischer Brandbeschleuniger – Wahrheit oder Mythos?

Goethes legendärer Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ gilt als gleichermaßen berühmt und berüchtigt. Nicht zuletzt genießt er den zweifelhaften Ruf, seinerzeit eine wahre Selbstmordwelle unter verzweifelten jungen Männern ausgelöst zu haben und gilt somit als wahrer Brandbeschleuniger der Literatur. Doch stimmt das überhaupt?

Was an dem weitverbreiteten Mythos tatsächlich dran ist, dieser Frage ging jetzt Prof. Dr. Stefan Matuschek in der Aula der Wetzlarer Goetheschule nach. Matuschek ist Professor für neuere deutsche Literatur an der Universität Jena sowie Präsident der internationalen Goethegesellschaft in Weimar. Der Vortrag fand im Rahmen des „Werther-Jahres 2024“ statt und war das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen der Wetzlarer Goethegesellschaft und der Goetheschule Wetzlar.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Anders als oft behauptet, ist es nicht nachweisbar, dass Goethes Werther eine Welle von Selbstmordversuchen ausgelöst hat. Belegen lassen sich lediglich eine Vielzahl an Warnungen vor einer solchen Gefahr, die aus den Reihen der Vertreter der Kirche geäußert wurden. Dennoch, so legte Matuschek dar, könne der Roman durchaus als „Brandbeschleuniger" gesehen werden, und zwar weil er dazu geführt habe, dass die ohnehin schon vorhandene Leselust bei vielen jungen Leuten zur Lesesucht mutierte. Plötzlich habe es erheblich mehr Leserinnen und Leser als gedruckte Werke gegeben – heute ist es umgekehrt. Tatsächlich habe es nach Erscheinen des „Werther“ Versuche gegeben, junge Leute vor den Gefahren der „Lesesucht“ zu warnen – ein Umstand, der heute nur schwer nachvollziehbar scheint.

In seinem kurzweiligen Vortrag ging Matuschek der Frage nach, was den Werther so erfolgreich machte. Die Antwort liegt nach Aussage des Goethe-Experten nicht zuletzt darin, dass Goethes Schreibstil außerordentlich lebensecht wirkt: Werther sei so verliebt, dass er nach Worten ringt und Sätze abbricht. Der Leser gewinne somit den Eindruck, eine authentische Gefühlsäußerung vor sich zu haben. Auch die Tatsache, dass der Roman nicht mehrere Bände umfasse, sondern knapp und fast atemlos erzählt wird, habe zum Erfolg beigetragen. Der Leser ermüde nicht, so Matuschek.

Der Literatur-Professor fand in seinem Vortrag ebenfalls Platz, auf Werthers Psyche einzugehen. Der Protagonist leide nicht nur an unerfüllter Liebe, sondern auch an den Bedingungen der damaligen Ständegesellschaft, die für ihn unüberwindbar sind. Dadurch vereinsame er zunehmend und ziehe sich immer weiter in sein Inneres zurück. Der Roman habe somit gewissermaßen als „Lebenswelt- und Schmerzsimulator“ für viele junge Leute gewirkt. Als Folge habe sich ein regelrechter Markt an Merchandise-Produkten entwickelt, erfuhr das faszinierte Publikum. So sei es etwa angesagt gewesen, „Werther-Kleidung“ zu tragen.

Durch viele spannende sprachliche Bilder und zahlreiche anschauliche Vergleiche gelang es Matuschek, das Publikum bestens zu unterhalten und auch den Schülerinnen und Schülern unter den Zuhörern dieses sperrige Werk und seine Entstehungszeit wirklich näherzubringen. Vielleicht wurde bei manch einem das Interesse ja sogar derart geweckt, dass er oder sie selbst demnächst zum Werther greift.

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